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Das Hochwasser in Münden und Göttingen im Februar 1909

(Heldentaten Mündener Pioniere)


von Reinhold Werther

Frühzeitig, viel früher als sonst, hatte der Winter eingesetzt. Aber es war kein echter, rechter Winter. Es war nur ein halber Winter. Kälte und Wärme wechselten häufig miteinander ab. Es kamen auch mal vereinzelte Schneefälle vor, aber die die Saaten schützende dichte weiße Decke blieb aus. Da, endlich am vorletzten Tage des Januar kamen dichte Schneeflocken vom Himmel herunter und hüllten die Landschaft in ein weiches, weißes Gewand. Ein wunderbar herrliches Bild bot sich dem Auge dar. Alle Löcher, alle Unebenheiten waren mit dem großen, weißen Tuche bedeckt. Jeder Zaunpfahl trug eine weiße Krone, und wenn man in den Wald hineinschritt und sah, wie die Tannen ihre Äste unter der weißen Last bogen, wie die wilden Waldbäche durch kristallklares Eis in ihrem Lauf gehemmt wurden, wie jeder Grashalm, jeder Zweig einen zauberhaften Schmuck trug, da wurde auch das härteste Herz weich und zur Andacht gestimmt.

Und dann am Sonntag, dem folgenden Tage, entfaltete sich ein frisches, fröhliches Leben. Jung und alt holten die Schlitten hervor. Es wurde gerodelt nach Herzenslust. Die Kinder zogen ihre Kippen auf jeden Berg, jeden Hügel hinauf und sausten in voller Jugendlust hinunter ins Tal. Und auf allen Fahrwegen eilten unter prächtigem Schellengeläute von schnellen Pferden gezogen die Schlitten dahin.

Aber lange sollte das Vergnügen nicht dauern, denn am 3. Februar setzte plötzlich Regen und Tauwetter ein. Das Thermometer stieg auf 5° Wärme. Der Schnee schmolz mit einer beängstigenden Schnelligkeit. Von den Dächern stürzten die schweren Schneelasten hernieder. Alle Bäche, alle Furchen und Rinnsale füllten sich schnell und bald konnten die Ufer der kleinen Wasserläufe die Massen nicht mehr halten. Wild und zügellos stürmten sie über die schützenden Dämme dahin und strebten den größeren Flußbetten zu.

Am Abend des 3. Februar erschien in den Mündenschen Nachrichten ein kleiner Aufsatz über das drohende Hochwasser, in dem es zum Schlusse hieß: "Wenn nun die plötzlich eingetretene Schneeschmelze nicht durch Frost gehemmt wird, dann haben wir ein recht bedeutendes Hochwasser zu erwarten. Jedenfalls tun die im Überschwemmungsgebiet wohnenden Leute gut, wenn sie die nötigen Vorkehrungen treffen, damit sie nicht allzusehr überrascht werden."

Leider ist diese Warnung zu wenig beachtet worden. Auch die dort ausgesprochene Hoffnung, daß Frost eintreten möchte, ist nicht in Erfüllung gegangen. Am 3. Februar zeigte der Weserpegel bei Münden noch 99 cm unter Null. Nach 24 Stunden zeigte er 238 cm über Null. Es war also eine Steigung von 3,37 m zu verzeichnen. Am 5. Februar zeigte er 504 cm über Null und am 6. Februar erreichte das Wasser mit 549 cm über Null seinen höchsten Stand. Innerhalb 70 Stunden war also das Wasser um 6 1/2 m gestiegen.

Solche Wassermengen konnten selbst die breiten Betten der Fulda, Werra und Weser nicht aufnehmen. In reißenden Strömen gossen sich die Fluten über die Ufer auf Äcker und Felder, auf Wiesen und Gärten, alles mit sich fortreißend, was nicht völlig niet- und nagelfest war. Der Tanzwerder bei Münden glich einem großen See. Nur die wenigen dort befindlichen Häuser und Bäume ragten aus der Flut empor. Selbst die Spitze der Wesersteins war mit Wasser bedeckt.

Und wie es auf dem Tanzwerder aussah, so sah es in allen Teilen des Kreises Münden aus, die von Werra, Fulda und Weser durchflossen werden. In Hedemünden stand der der Werra zugekehrte Teil der Stadt völlig unter Wasser, so daß ein Hochwasser erlebt wurde, wie in den Jahren 1840 und 1871. Die an der Werra gelegenen Gärten und Felder standen 1 1/2 m unter Wasser, desgleichen die Landstraße nach Münden, so daß das Wasser an verschiedenen Stellen den Bahndamm überspülte. Mitten durch die Ratsmühle ging der reißende Strom. Am Friedhofe in der Bachstraße, auf der Blume, in der Mühlenstraße, im Sack und in der Entengasse konnte der Verkehr nur notdürftig mit Kähnen aufrecht erhalten werden. Das Vieh konnte aus den niedrig gelegenen Stadtteilen gerade noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Die Pfeiler der Werrabrücke standen völlig im Wasser, doch blieb der Brückenverkehr noch frei, während die hessische Brücke bei Gertenbach noch völlig unpassierbar war.

In Wiershausen hatte der schmelzende Schnee im Felde und auf den Wegen große Verheerungen angerichtet. Der Weg nach dem Ilkstale war zum Teil verschüttet und mußte gesperrt werden. Der Weg nach Lippoldshausen war durch Erdmassen, Buschwerk und strömendes Wasser ungangbar. Viel Ackerkrume und Holz aus der Forst wurde weggeschwemmt.

Volkmarshausen wurde durch die sonst so ruhig und friedlich dahinströmende Schede in große Wassersnot versetzt. Das Wasser drang in die Häuser und bedrohte Vieh und Vorräte. Mehrfach mußte das gefährdete Eigentum in höhere Lagen gebracht werden. Und so sah es überall aus in den an den Flüssen und in ihrer Nähe liegenden Ortschaften. Der Verkehr zwischen Münden, Gimte, Eichhof und Hemeln konnte nur auf Umwegen über die Berge aufrechterhalten werden, da die am Wasser entlang führenden Straßen unter Wasser standen.

Am schlimmsten sah es natürlich in Münden aus, wo die beiden Flüsse zusammenströmen. Hier richteten namentlich die treibenden Eisschollen großen Schaden an. An der Casseler Chaussee wurde eine ganze Reihe Bäume von ihnen abgeschält. Die nackten Stämme boten ein trauriges Bild der Verwüstung dar. Die Wege an den Flußläufen wurden völlig ausgespült. Die Mauern und das Pflaster beim Schleusenhause auf dem Tanzwerder wurden arg zerstört. Schwere Quaderstein wurden dort ausgerissen und weit fortgetrieben. Metertiefe Löcher entstanden, so daß die Stelle nach dem Verlauf des Hochwassers einem Trümmerfelde glich.

An der Schlagdspitze senkte sich das Erdreich, so daß der dort befindliche Kran und das Waagehäuschen einzustürzen drohten. In der Stadt stand das Wasser bis zum Marktplatz. Werra und Fulda vereinigten sich an der Ecke der Loh- und Mühlenstraße, so daß Witzbolde die Bemerkung machten, man möchte den Weserstein jetzt an die Stelle setzen.

In der Kiesau, Mühlen-, Speck-, Loh- und Dunklen Straße fuhren die Kähne hin und her.

Völlig abgeschnitten von allem Verkehr aber waren die Einwohner der Gemeinde Blume. Doch die wackeren Pioniere sorgten dafür, daß die in ihren Häusern eingeschlossenen Menschen keine Not litten. Hier brachten sie Brot und Kartoffeln, dort sorgten sie für Milch und Fleisch. Hier schafften sie den Arzt für erkrankte Personen herbei, dort linderten sie andere Not: Freilich benutzten sie dabei nicht den gewöhnlichen Zugang zu den Häusern, denn die Hauseingänge waren unter Wasser. Mit Hilfe von Körben, Stricken, Leitern wurden die Verbindungen zwischen den Pontons der Pioniere und den oberen Stockwerken hergestellt. Um an die Häuser im Stadtteil hinter der Blume heranzukommen, mußten die Gartenmauern überwunden werden. Das bot aber zur Zeit der Hochflut keine Schwierigkeit, denn das Wasser flutete über sie hinweg und trug die schweren Pionierpontons über die Mauern hinweg mit Leichtigkeit bis an die Fenster der Häuser.

Die Werra bildete einen breiten See, der von der Blume bis zum Schloß reichte. In der unteren Langen Straße aber hatten die Pioniere eine große Laufbrücke geschlagen, über die schwindelfreie Personen hinweggehen konnten. Ängstliche Leute aber wurden von den stets hilfsbereiten Soldaten sorgsam darüber hingeleitet. Von der Laufbrücke führten dann kleinere Nebenbrücken in die einzelnen Häuser. Die Pioniere haben in den Tagen sich als wahre Retter in der Not gezeigt und das enge Band, welches sie mit Mündens Bevölkerung verbindet, wurde in den Tagen noch enger geknüpft. Der Magistrat der Stadt und der Landrat des Kreises Münden sprachen später dem Bataillon öffentlich Dank für die Hilfeleistung aus, und dieser Dank war ganz im Sinne der gesamten Bevölkerung.

Aber nicht allein in Münden, auch in Göttingen verrichteten die Pioniere Heldentaten. Man hatte sie dorthin gerufen, denn auch in Göttingen herrschte große Wassersnot. Die kleine, unbedeutende Leine war über Nacht zu einem reißenden Strom geworden und hatte das ganze Tal unter Wasser gesetzt. Die furchtbare Überschwemmung ist wohl eines der größten Ereignisse gewesen, die sich jemals in Göttingen abgespielt haben. Nicht einer der ältesten Einwohner kann sich entsinnen, ähnliches je dort erlebt zu haben. Immer höher und höher stieg die Flut, mit ungestümer Gewalt brach sie in die Stadt hinein und eroberte eine Straße nach der anderen. Der Bahnhof und das Postgebäude waren vom Fußgängerverkehr völlig abgeschnitten. Bald drang das Wasser in das Bahnhofsgebäude ein und überschwemmte den zu den Bahnsteigen führenden Tunnel, der mit dem Vestibül eine Wasserfläche bildete. Der Verkehr mit dem Bahnhof konnte nur noch mit Droschken und Omnibussen aufrecht erhalten werden. Bis an den Bauch im Wasser stapfend konnten die Pferde nur mit großer Anstrengung vorwärts gelangen.

Die Bürgerstraße, die Wiesenstraße, die Angerstraße, Geiststraße, Neustadt, Alleestraße, Untere und Obere Masch standen meterhoch unter Wasser. Die freiwillige Feuerwehr wurde alarmiert, da einige Häuser einzustürzen drohten. Rasch waren die Mannschaften zur Stelle und rückten in einzelnen Zügen nach der Groner Chaussee, dem Rosdorfer Weg und der Wiesenstraße zur Hilfeleistung aus. In der letzteren war eines der auf der rechten Seite befindlichen Häuser von den andrängenden Wassermassen unterspült, so daß die Räumung des Hauses geboten erschien. Bis unter die Arme im Wasser watend, drangen die Feuerwehrleute ins Haus, trugen Frauen und Kinder auf den Schultern zu den in der Mitte der Straße haltenden Rollwagen, mit denen die Gefährdeten in Sicherheit gebracht wurden. In großer Gefahr befanden sich die Bewohner der Maschmühle, die durch Notflaggen und Notschüsse dringend Hilfe verlangten. Sie mußten über 24 Stunden in dieser gefährlichen Lage ausharren, denn erst nach vielstündiger, angestrengter Arbeit gelang es den Mündener Pionieren, ihnen Hilfe und Rettung zu bringen.

Nicht minder bedrängt waren die Wachmannschaften auf dem Militärschießstand, die sich vor den Fluten teils auf das Dach des Wachthäuschens, teils auf die Pappelbäume flüchteten. Nach stundenlangem Ausharren, während welchem sie mehrfach Notschüsse abgaben, gelang es einem Leutnant und mehreren Infanteristen, mittels eines Nachens die Bedrängten in Sicherheit zu bringen.

Unschätzbare Dienste leistete auch in Göttingen das Militär. Sofort als die Situation ernst zu werden begann, hielt Regimentskommandeur Oberst von Gladies das gesamte Regiment zur Hilfeleistung in Bereitschaft und jede gewünschte Zahl von Mannschaften wurde zur Verfügung gestellt, wo nur Hilfe verlangt wurde. Hunderte von Mannschaften wurde in den verschiedensten Straßen mit dem Auspumpen der Keller beschäftigt. Andere halfen beim Ausräumen der vielen unbewohnbar gewordenen Häuser.

Die Mündener Pioniere waren damit beschäftigt, die Fußsteige durch Belegen mit Balken und Bohlen passierbar zu machen. Allenthalben war man voller Bewunderung über die Tätigkeit der Wackeren und war allgemein erstaunt über die Schnelligkeit und Promptheit, mit der die Mannschaften unter dem Befehl des Leutnants Heumann eingegriffen haben. Kaum waren die schweren Pontons eingetroffen, als sie auch schon ausgeladen und unmittelbar vor dem Bahnhofseingang ins Wasser gesetzt wurden. Gleich darauf ruderten sie in die am höchsten überschwemmte Leinestraße, dort ununterbrochen Lebensmittel austeilend und Leute aus den Häusern schaffend.

In den Dörfern des Leinetals sah es ebenfalls böse aus. Der Eisenbahnverkehr zwischen Eichenberg und Göttingen war eine Zeitlang unterbrochen. Viele Ackerbreiten befanden sich in einem trostlosen Zustande. Manche wurden arg versandet, bei anderen wieder wurde die Ackerkrume fortgespült und metertiefe Löcher in den Boden gerissen. Glücklicherweise ist aber weder im Kreise Münden noch in Stadt und Kreis Göttingen ein unersetzlicher Verlust zu verzeichnen gewesen. Menschenleben waren nicht zu beklagen. Nun aber bewahrheitete sich das Sprichwort: " Wo die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten." Sofort wurden in Göttingen und Münden Sammlungen veranstaltet. Der Opfersinn und die Opferfreudigkeit zeigten sich in ihrer schönsten Gestalt. Hilfsbereit Menschen waren unermüdlich tätig. Hier brachten sie Holz und Kohlen, die nötig waren, um die nassen Wohnungen auszutrocknen. Dort versorgten sie bedürftige Familien mit Lebensmitteln und Kleidungsstücken. Und denen, die keine Gelder hatten, um den entstandenen Schaden wieder auszubessern, wurde reichlich Mittel zur Verfügung gestellt. Große Summen wurden in kurzer Zeit gesammelt, so daß allen Anforderungen, die an die Hilfsausschüsse gestellt wurden, entsprochen werden konnte.

Drei Tage hielt das Hochwasser an. Dann verlief es sich. Aber lange Zeit dauerte es, ehe die letzten Spuren des Hochwassers beseitigt waren. Jetzt erinnern nur noch die überall angebrachten Hochwassermarken an die bösen Tage im Anfang Februar des Jahres 1909. Wer aber die Tage miterlebt hat, dem werden sie nie aus dem Gedächtnis entschwinden. Denkt man aber an sie zurück, so möge man auch der wackeren Männer und Frauen gedenken, welche in unermüdlichem Eifer bemüht waren, teils durch Spenden, teils durch Einsetzen ihrer Person Hilfe und Rettung aus der großen Not zu bringen.

(aus dem Heimatkalender für die Kreise Göttingen-Land und Münden in Hannover, 1910)

Ansichtskarte von 1909

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