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Die Bundeswehr löst 213 Standorte auf
Wenn die Soldaten gehen
Im Süden Niedersachsens wehren sich Kommunen gegen die Schließung der Kasernen / Von Norbert Kostede


Wo Werra und Fulda zusammenschäumen und die Weser beginnt, liegt die alte Fachwerkstadt Hannoversch Münden. Im Gasthaus „Zum Wilden Mann" starb hier im Jahr 1727 ein großer deutscher Sprücheklopfer: „Ich bin der Doktor Eisenbart, kurier die Leut nach meiner Art "

Heute stellen sich in dieser Stadt Lokalpolitiker an, als könnten sie machen, daß Blinde wieder gehen.

Hoch über der Stadt, im Rittersaal des Welfenschlosses, biegen sich die Balken.

Die Zeit

Die Ratsversammlung kommt zum Tagesordnungspunkt 15, Erhaltung des Bundeswehrstandortes Münden. Die 857 in der Kurhessen Kaserne stationierten Soldaten sollen abgezogen werden. Alle Rathausparteien protestieren, und ein Redner nach dem anderen bekennt: „Wir stehen voll und ganz hinter unseren Pionieren!" Hätte sich tatsächlich ein Bürger in Uniform in diese Versammlung verirrt, ihm wäre ob solch intimer Freundschaftsbeweise recht schwül geworden. Glücklicherweise lagen die braven Soldaten an diesem Abend südlich von Kassel im Manöver und spielten Krieg.

Es sollte eine einmütige Bekundung werden. Warum wird aus dieser Sitzung plötzlich ein lauter Streit? Da schimpft CDU-Ratsherr Helmut Quentin auf die rot-grüne Landesregierung in Hannover, die sich nicht ernsthaft für die Erhaltung der Garnison einsetze. Und SPD-Bürgermeister Albert Viege wettert gegen Bonn; er beschuldigt Verteidigungsminister Stoltenberg, ohne Rücksicht auf die Strukturschwäche des ehemaligen Zonenrandgebietes zu planen. Schließlich weigern sich auch noch die Grünen, dem verabredeten und bereits verteilten „einstimmigen" Beschluß zuzustimmen, der Rat spreche sich für den Fortbestand des Standortes aus.

Schnell ist das Rätsel gelöst. Am 6. Oktober sind in Niedersachsen Kommunalwahlen. Nicht Konsens, sondern Profilierung ist gefragt, so ganz nach Art des Doktor Eisenbart: Abrüstung? Schön und gut, aber bitte schön nicht bei uns! Weniger Soldaten? Auch gut, aber unsere sollen bleiben! Wer ist schuld, wenn die Soldaten gehen? Immer die andere Partei.

Zur Erinnerung: Die Bundesrepublik hat sich vertraglich verpflichtet, den Friedensumfang der deutschen Streitkräfte bis Ende 1994 auf 370 000 Soldaten zu reduzieren; heute sind es gut 460 000. Der Stationierungsplan Gerhard Stoltenbergs sieht nun vor, daß in den alten Bundesländern 213 Standorte geschlossen werden sollen. Die betroffenen Gemeinden, Bezirks- und Landesregierungen sollen bis zum 4. Juli Stellung nehmen. So tobt im Westen der Republik ein erbitterter Kampf zwischen strukturschwachen Gemeinden und Regionen, daß der Kelch der Abrüstung an ihnen vorbeigehe.

Auch der südöstliche Zipfel Niedersachsens wird hart getroffen Über Jahrzehnte rüstete man hier gegen einen Vorstoß der Russen ins Ruhrgebiet. Heute, nach der Wiedervereinigung und dem vereinbarten Abzug der sowjetischen Verbände, müssen zahlreiche Garnisonen verkleinert oder geschlossen werden. Nach der bisherigen Planung sollen die Standorte Göttingen, Münden, Northeim, Clausthal Zellerfeld und Wolfenbüttel ganz aufgegeben werden.

Der Mündener Stadtdirektor Karl Wilhelm Lange hat die Einbußen, die mit dem Wegfall des „Wirtschaftsfaktors Bundeswehr" in der Stadt eintreten würden, ausrechnen lassen: Es droht der Verlust von rund 280 Arbeitsplätzen, darunter für 120 zivile Mitarbeiter der Garnison; fünf Millionen Mark wurden durchschnittlich im Jahr für Standort Baumaßnahmen ausgegeben; der jährliche Kaufkraftverlust wird auf zehn bis fünfzehn Millionen Mark taxiert — für eine Kleinstadt mit 25 000 Einwohnern mehr als nur ein Nackenschlag. Mit einer Quote von 9 5 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit in Münden schon heute weit über dem Durchschnitt der alten Bundesländer.

Wilfried Heede ist Geschäftsführer einer Mündener Großbäckerei mit 85 Beschäftigten. Jeden Morgen liefert er 9000 Brötchen, 800 Brote und jede Menge Kuchen in verschiedenen Kasernen an, „damit unsre Jungs im Dienst keine weichen Knie kriegen". 25 Prozent seines Umsatzes verdankt erder Bundeswehr; dies wäre im schlimmsten Fall auch der Prozentsatz, den sein Kleinbetrieb an Arbeitsplätzen einsparen müßte.

In vielen Gemeinden hat sich herumgesprochen, daß die Landesregierung in Hannover händeringend nach Unterkünften sucht — für Asylbewerber und Aussiedler „Bevor die kommen, sollen lieber die Soldaten bleiben", stöhnt eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung in Clausthal Zellerfeld, wo freiwerdende Kasernen der Bundeswehr als Studentenwohnheime oder für ein neues Technologiezentrum genutzt werden sollen.

„Unruhe in der Truppe" heißt es auch unter Garnisonskommandanten. Den Rekruten kann die Debatte zwar egal sein; auch sind Offiziere, die alle zwei bis drei Jahre ihren Posten wechseln, Routiniers in Sachen Versetzung. Dennoch gibt es im südlichen Niedersachsen Hunderte von Zeit und Berufssoldaten, insbesondere unter den Unteroffizieren, die sich vor einer Versetzung in weit entfernte Standorte fürchten: Sie haben in der Nähe ihrer Garnison ein Haus gebaut, ihre Kinder gehen hier zur Schule, ihre Frauen fanden eine Arbeit, die den schmalen Sold der Bundeswehr aufbessern hilft.

Am ärgsten trifft eine Verkleinerung oder Auflösung von Garnisonen die zivilen Mitarbeiter. Ungefähr ein Viertel der 180 000 Zivilbeschäftigten in Westdeutschland ist davon betroffen. Zwar hat Verteidigungsminister Stoltenberg versprochen, daß niemand entlassen werden soll. Die Planer auf der Hardthöhe versichern, mit natürlicher Fluktuation und mit Versetzungen könne das Problem gelöst werden. Die Arbeiter und Angestellten in den Kasernen jedoch, die mit den Familien wie viele Soldaten an ihre Heimatorte gebunden sind, bleiben mißtrauisch: Sie befürchten, daß ihnen mit der Auflösung der Dienststelle eine Änderungskündigung ins Haus flattert — entweder Versetzung oder Rausschmiß.

Verzweifelt schauen sich die ersten nach beruflichen Alternativen um. Aber welche Firma braucht schon einen Panzerschlosser? Oder einen fünfzigjährigen Elektriker, dem moderne Schaltanlagen ein Buch mit sieben Siegeln sind? Wo sollen angelernte Kasernenwärter und Großküchenhilfen unterkommen? Oder Sekretärinnen, die nur mit dem Bundeswehrstandard eines Schreibbüros der frühen siebziger Jahre vertraut sind?

Nur wenige Landes- und Kommunalpolitiker glauben, daß alle von der Truppenreduzierung Betroffenen in nahen Bundeseinrichtungen und in den verbleibenden Standorten der Bundeswehr untergebracht werden können. Vor allem die Kommunalpolitiker sind hilflos, da viele niedersächsischen Städte und Gemeinden schon heute von ihren Personalkosten erwürgt werden. So klammern sie sich an das durch alle Garnisonsstädte kreisende Schlagwort von der „Konversion" — die zivile Umwidmung der Kasernen und Liegenschaften, finanziert durch die Friedensdividende des Abrüstungsprozesses.

Ist das realistisch oder nur ein schönes Luftschloß? Vor wenigen Tagen erst ließen die Verteidigungsminister der Nato durchblicken, die Friedensdividende müsse wegen Umorganisation und Modernisierung der Streitkräfte leider wegfallen. Und vielen Kommentatoren erscheint die Forderung der Gewerkschaft ÖTV, der Bund solle — auch für ausscheidende Zivilbeschäftigte der alliierten Streitkräfte — Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften einrichten, angesichts der Wirtschaftsmisere in den neuen Bundesländern als völlig überzogen. Als hätten die Gewerkschaften neue Arbeitslosigkeit im Westen zu schlucken, weil im Osten über Jahre alles viel schlimmer sein wird.

Wenn Bund, Länder und Gemeinden zügig und kooperativ handeln, läßt sich der Schaden für einzelne Gemeinden und Arbeitnehmer begrenzen: durch Ansiedlung neuer Dienstleistungs- oder Industriebetriebe in freiwerdenden Liegenschaften; durch regionale Bauhöfe, in denen ehemalige Zivilbedienstete für Wartung, Umnutzung oder ökologische Sanierung ehemaliger Militäreinrichtungen zuständig wären; durch rasche Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen; durch eine bevorzugte Einstellung der zivilen Garnisonsmitarbeiter in geeigneten Bereichen des öffentlichen Dienstes; durch eine tarifvertraglich geregelte Abfindung im Kündigungsfall.

Oberstleutnant Wolfgang Fett, Kommandant der Scharnhorst Kaserne in Northeim, bringt es auf den Punkt: „Der Bund würde an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn er seine Garnisonen, Soldaten und zivilen Mitarbeiter einfach wegsanieren würde Warum sollten Gewerkschafter anders denken ?

Vollends absurd, sind die wechselseitigen Schuldzuweisungen im Vorfeld der niedersächsischen Kommunalwahlen. Weder hat „der Stoltenberg" noch haben „die Rot Grünen" schuld, wenn Garnisonen geschlossen werden müssen. Schuld an sozialen und regionalen Härtefällen ist ein jahrzehntelanger Aufrüstungsprozeß, dem jetzt die Spitze abgebrochen wurde — endlich.

In Göttingen tobt der Streit besonders heftig. Die Ratsmehrheit von SPD und Grünen sprach sich bereits im vergangenen Oktober für die Aufgabe des Bundeswehrstandortes aus. Eine Schließung der Zieten Kaserne bietet neue Chancen für Wohnungsbau und Stadtentwicklung, und Abrüstungsbefürworter haben in dieser Universitätsstadt ohnehin immer ein dankbares Publikum. Da wollten die Bonner Planer nicht nein sagen und setzten die Garnison auf ihre Streichliste.

In der vergangenen Woche zwang jedoch ein Bürgerantrag — über 3000 Unterschriften einer Bürgerinitiative zur Erhaltung des Bundeswehrstandortes Göttingen wurden vorgelegt — den Rat der Stadt, sich erneut mit dem Thema zu befassen. Vergebens. Einer der Sprecher dieser Bürgerinitiative und selber ein langjähriger Soldat, CDU-Ratsherr Klaus Brandt, klang tief enttäuscht: „Hier wird Geschichte gemacht! 359 Jahre lang war Göttingen eine Garnisonsstadt! Und nun soll Schluß sein?" Empört über soviel Traditionsvergessenheit seiner rot-grünen Ratskollegen rief er laut in die Runde: „Diese Stadt braucht eine andere Mehrheit!"

Nachdem er in Münden gestorben war, wurde Eisenbart in Göttingen gesehen.


Bericht entnommen aus "Die Zeit", Ausgabe 25 vom 14.06.1991

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